Wenn ein einfacher Videoeffekt zur Symbolik eines Marketing-Dilemmas wird.
td;dr: Löscht alle Distortion-Videoeffekte in euren Videoediting-Tools und kümmert euch um besseres Storytelling oder produziert Bilder, die für sich stehen!
Ich hab lange Zeit gehofft, dass sich das Problem von selbst lösen und der "Trend" irgendwann vorbei sein wird, und ich mich im Jahr 2021(!) nicht mehr mit diesem Phänomen auseinandersetzen muss. Doch ich habe mich offenbar gänzlich getäuscht, denn diese, im wahrsten Sinne des Wortes, zerstörerische Plage breitet sich weiter aus.
Wer jetzt denkt, ich würde über ein großes gesellschaftliches, ökologisches oder politisches Problem schreiben, den kann ich beruhigen. Das Ganze ist gesamtgesellschaftlich überhaupt kein Problem, sondern ein sehr nischiges (Werbe-)Filmemacher-Thema. Aber aus dieser Nische heraus betrachtet ist es eine Dilemma. Es geht um den Erzfeind jedes Video-Footages, den Glitch-Effekt.
Ein Effekt, der aus der Vergangenheit kommt, aber die Einfältigkeit der Gegenwart repräsentiert.
Jener Effekt, der sich wie eine wildgewordene Elefantenherde über teuer produzierte Pixel hermacht, als würden diese nichts wert sein. Ein Effekt, der es geschafft hat, sich hinterrücks in zahlreiche Werbefilme, Contentpieces und Social-Ads zu schleichen, als würde ein Video ohne ihn nicht durch den Uploadfilter kommen. Ein Effekt, der selten allein kommt und in der Kombination mit einem VHS-Effekt und der immer gleichen Kinetic-Typographie zu einem austauschbaren Gut geworden ist, auf das trotzdem so viele Filmemacher, Agenturen und Kunden immer wieder zurückgreifen. Ein Effekt, der aus der Vergangenheit kommt, aber die Einfältigkeit der Gegenwart repräsentiert.
Doch woran liegt das? Warum zerstören wir freiwillig unser Filmmaterial?
Bevor ich meine subjektiven Antworten auf die Fragen gebe, hier noch ein paar Glitch- und andere Effekte zum Genießen oder Erschießen:
Für sich genommen vielleicht ganz schön und nostalgisch anzuschauen. Aber wie inflationär das Ganze dann in der Werbung oder in Contentformaten aussehen kann, hat Puma in seinem aktuellen Kampagnenfilm zu "Only See Great" gezeigt. Die Macher haben dort einfach sämtliche Distortion- und Verfremdungs-Effekte auf einige Sequenzen gelegt, und mich als Zuschauer meinem visuellen Schicksal überlassen. Ab Sekunde 00:24 und 00:35 gibt es pixelbasiertes LSD auf die Augen.
Aussage, Tonspur, Inhalt und Timing wirken dabei so willkürlich, dass der Eindruck entsteht, das Ganze wurde von einer Maschine editiert, nicht von Menschenhand (Zukunfts-Spoiler).
Und damit ist dieses Puma-Video leider eher die Regel, als die Ausnahme. Wobei hier auch gesagt sei, dass Distortion-Effekte generell nicht zu verteufeln sind, solange sie den Inhalt und die Aussage unterstützen/visualisieren. Gleiches gilt für den Einsatz von Templates, Kinetic-Typo oder anderen vorproduzierten Assets.
Aber zurück zu der Frage nachdem "wieso" und der freiwilligen Selbstzerstörung des teuer produzierten Videomaterials.
Für mich steht der Glitch-Effekt dabei an der Sperrspitze eines generellen Problems in der Social Video Ad/Contentproduktion - Diese umständliche Begrifflichkeit ist schon ein Sympthom des Problems. Das Resultat sind immer einfältigerer Werbefilme, dessen Macher sich der immergleichen Templates, Transitions und Effekte bedienen, anstatt dem Storytelling und der Bildsprache die Bühne und Aufmerksamkeit zu schenken. Denn eine gute Geschichte oder ein ausdrucksstarkes Bild kennt keinen Kanal oder Werbemittel.
Aber "wir" vermischen aktuell jegliche existierende Bewegtbildformate miteinander und finden häufig keine guten Antworten auf die Kanal- und Formatvielfalt. In der Anfangszeit von Social Media Plattformen haben Marken angefangen, ihre TV-Spots in die Feeds der User zu spülen und dabei festgestellt, dass das so einfach nicht funktioniert, weil Social Media eben ganz eigene Gesetzmäßgkeiten hat und ein User anders tickt und konsumiert, als der/die FernsehzuschauerIn.
Das Thema haben wir dann über die Jahre in den Griff bekommen. Inzwischen bekommt jedes Unternehmen oder Agentur von der jeweiligen Plattform ganz genau diktiert, wie der werbliche Content geschaffen sein soll, in Länge, Branding und Format. So weit so gut (schlecht).
Ein Format, dass das erste Mal in der Geschichte der Werbemittel nicht von der Werbeindustrie und Marktforschungen selbst entwickelt wurde, sondern von einer höheren Gewalt, den Usern selbst.
Doch in den letzten Jahren kam neben TV & Social Feed noch eine neue Instanz dazu, eine Instanz, die viel größer geworden ist als irgendein Feed oder TV-Werbeblock. Und zwar die zeitlich limitierten (24 Stunden) Storyformate. Ein Format, dass das erste Mal in der Geschichte der Werbemittel nicht von der Werbeindustrie und Marktforschungen selbst entwickelt wurde, sondern von einer höheren Gewalt, den Usern/Kunden selbst. Sie haben die ursprünglichen Dos und Don'ts in Storypieces definiert und etabliert.
Doch wie umgehen mit dieser ganz neuartigen Social Video-Ad-Grammatik? Die vorhandenen Content- und Werbeformate einfach kürzen, in ein neues Format bringen und ab ins All damit? No. Auch hier hat man schnell festgestellt, was vermeintlich funktioniert und was nicht. Die Antwort lautete: Bloß nicht auffallen im Story-Block der User, also die Machart des UserGeneratedContents übernehmen und so "unwerblich" wie möglich bleiben bzw. den Habitus der User kopieren.
Und wie sieht der aus, dieser UserGeneratedContent? Immer genau so, wie die Filter und Effekt der Plattformen das vorgeben bzw. ermöglichen. Als User ohne Film- und Editing Kenntnisse nutze ich natürlich die mir gegeben Mittel und klatsche ein AR-, Glitch- und VHS-Effekt nachdem nächsten auf meine selbstgedrehten Clips. Und genau dafür werden diese Effekt und Filter auch gebaut, für die User.
Nun stehen Agenturen und Marken aber vor einem Scherbenhaufen aus ganz unterschiedlichen Nutzerinteressen und Anforderungen. TV, In-Feed, Story, Reel, TikTok, Youtube, Website, Digital Out of Home und so weiter. Und die Plattformbetreiber werden nicht müde zu betonen, wie wichtig das eigene und neuste Werbemittel ist.
Will man alle NutzerInnen und User gleichermaßen abholen, muss das konzeptionell und produktionsseitig von vorne bis hinten durchdacht sein und in der Grundidee und Strategie verankert und gleichzeitig noch flexibel sein. Das kostet natürlich Zeit und Geld. Beides ist in vielen Fällen nicht mehr in ausreichendem Maße vorhanden und das führt zu den schnellen und austauschbaren Lösungen, zu nichtssagenden Bildinhalten, die durch ein paar Effekte und ein bisschen Typo aufgewertet werden, in der Hoffnung, mit genug Mediabudget garniert, trotzdem positiv aufzufallen und Engagement oder Leads zu generieren. Im Ergebnis sehen wir häufig den Mix aus verschiedensten Formaten, Längen, Effekten, Brandings usw. Das besten aus viel zu vielen Welten und Kanalanforderungen. Alles für den einen oder anderen Kanal korrekt, aber in Summe trifft es sehr oft den falschen Nerv und wird vermischt, weil es nicht zu Ende gedacht wurde oder werden konnte.
Hier ein sinnbefreites Beispiel einer VW "Video-Ad" aus dem LinkedIn Feed - Ist das Werbung oder kann das weg?
Fazit
So betrachtet kann einem der Glitch-Effekt fast leidtun, weil er ja eigentlich einen romantischen Kern hat - er ist quasi der Plattenspieler unter den Videoeffekten. Er kommt aus der analogen Zeit von bandbasierten Speichermedien, bei deren Übertragung Fehler auftreten konnten, wodurch Artefakte im Bild entstanden. In der Elektrotechnik werden solche Übertragungsfehler als Defekt oder Störung deklariert, im Englischen Glitch.
Deshalb ist es eigentlich nur folgerichtig, dass gerade der Glitch-Effekt immer noch so inflationär eingesetzt wird, als Symbolik für eine Störung im System der Werbe- und Contentproduktion.
In diesem Sinne: Glitch komm raus, du bist umzingelt.
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