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Out of the bubble.

Updated: Apr 8, 2021


Artwork by Pawel Kuczynski https://www.facebook.com/pawelkuczynskiart/

tl;dr: Dieser Text ist ein Versuch, meinen stetig aufgebauten Groll und die Hintergründe über die Entwicklungen von Facebook & Co der letzten Jahre los zu werden. Geschrieben habe ich den Text direkt nach dem Sturm auf das Kapitol in den USA. Durch die teils emotionale Note ist der Text entsprechend (zu) lang geworden.


Wenn ich mich in meinem persönlichen und medialen Umfeld umschaue, stelle ich schnell fest, dass die größten Probleme unserer Zeit bzw. Gesellschaft aktuell die Pandemie und übergeordnet der Klimawandel sind. Hinzu kommen beunruhigende gesellschaftliche Tendenzen, die sich in einem Wust aus rechten Idiotien, Verschwörungstheorien und spalterischem Gedankengut zusammenfassen lassen.


Eine Menge Holz, das die Gesellschaft und die Politik aktuell ertragen und bewältigen müssen. Und wenn ich das Ergebnis meines Medienkonsums anschaue und die vielen Nachrichten und Talkshows, Dokumentationen und Reportagen runterbreche, habe ich das Gefühl, dass wir in Deutschland und grundsätzlich auch in Europa zumindest eine Vielzahl plausibler Antworten bzw. Maßnahmen für die vielen Probleme haben. Ganz sicher nicht für alle und ganz sicher auch in vielen Fällen noch lange nicht ausreichend, aber doch einigermaßen umfassend und analytisch. Doch wieso reibe ich mir trotzdem jeden Tag aufs neue verwundert die Augen, wenn ich sehe, was für Demonstrationen, was für Bewegungen, was für Theorien, was für Wahlergebnisse und was für Gedankengut trotz aller medialer Aufklärung in diesem Land und global betrachtet vorherrscht? Wie kann es sein, dass es so viele Menschen und Gruppierungen gibt, die so anders Denken und so eine andere Realität haben?


Eine Antwort darauf ist eigentlich hinlänglich bekannt. Es liegt an dem Teufelswerkzeug unserer Zeit, dem größten Feind der Demokratie: Den auf Kapitalismus getrimmten Algorithmen der global agierenden Datenkraken, die nur ein übergeordnetes Ziel verfolgen: Größtmögliches User-Engagement. Also dem Grad der Interaktion eines Users mit Inhalten auf einer Plattform. Langläufig mit Social Media umschrieben. Der Begriff "Social Media" ist dabei die wirtschaftliche Verharmlosung eines Systems, dass nur darauf abzielt, Umsatz für sich und seine zahlenden Kunden zu generieren.


Das was die Kunden einkaufen, ist mehr oder weniger garantiertes Engagement und damit die Erfolgsaussicht, dass die User innerhalb einer "Customer Journey" so getriggert werden, dass diese zu einem gewissen Zeitpunkt konvertieren/klicken und die Journey irgendwann zu einer Kaufentscheidung führt. Flankiert wird das Ganze natürlich noch von einem Haufen imageprägender Maßnahmen, die zunächst mal eine Markenbindung aufbauen soll. Durch die Macht der Unternehmen, die diese datengetriebenen Journeys anbieten und die eine Datenmacht über ihre User haben, ist diese Form der Vermarktung für Unternehmen, egal ob groß oder klein, heutzutage nicht mehr wegzudenken. Es führt für fast alle Branchen kein Weg an diesen Platzhirschen vorbei. Man kann als Unternehmen lediglich noch ausloten, welches der Anbieter bzw. welche Kanäle am besten zur eigenen Unternehmens-DNA bzw. Marketingstrategie passen und wo sich die eigene Zielgruppe tummelt.


Dieses System ist ebenfalls nicht neu und entwickelt sich jeden Tag weiter. Es entstehen Jahr für Jahr immer neue Business Opportunities, sowohl für die Datenhändler selbst, als auch für unendlich viele Drittanbieter, wie Agenturen, Creator, Analysten, Berater und viele andere (neuartigere) Berufs- und Branchenzweige.


Insofern gibt es genug Gründe (Arbeitsplätze), dieses System nicht zu sehr in Frage zu stellen, weil es funktioniert, weil es messbar und planbar ist, weil es anerkannt ist und weil die User unvermindert mitspielen. Sie wechseln höchstens hin und wieder den Kanal und das Medium ("Facebook ist uncool, ich bin jetzt nur noch bei TikTok"), doch im Hintergrund bleibt vieles gleichgeschaltet.


Die schöne, heile Marketingwelt funktioniert nach ganz klaren psychologischen Mustern, die sich die Facebooks dieser Welt nicht ausgedacht haben, aber die sie in Perfektion Sekunde für Sekunde bei zig Millionen Menschen anwenden und das können sie deshalb so gut, weil sie ihre User besser kennen, als diese es selbst tun. Wenn ich weiß, dass du Schwanger bist, bevor du es selbst weißt, kann ich dich bereits langsam an die Produkte heranführen, die dich in wenigen Wochen brennend interessieren. Ein altes Beispiel, aber immer noch am plakativsten.


Dieser Marketing-Auszug ist zugebenermaßen sehr runtergebrochen und wenig tiefgründig, soll aber im Kern nur die "systemrelevanten" Vorgänge umschreiben, die wir alle akzeptiert und in unser Wirtschaftssystem aufgenommen haben. Aus den oben genannten Gründen. Auch ich profitiere beruflich davon, weshalb ich mir erlaube, mir darüber eine Meinung zu bilden. Und es findet sich darin auch viel Gutes wieder, was ich nicht in Frage stellen möchte. Abseits des Marketings ist inzwischen auch die Begrifflichkeit der "Bubble" angekommen. Die meisten wissen, dass er oder sie sich in einer digitalen Bubble befinden. Wobei sich das Wort "digital" an dieser Stelle auch streichen ließe, weil der Übergang von digital zu anolog zunehmend fließender wird.


Das Wort Bubble klingt dabei irgendwie sympathisch, fast niedlich und romantisch. Man fühlt sich darin geborgen und sicher, alles Böse prallt draußen an der Bubble ab und löst sich im Nirwana auf. Aus den Augen, aus dem Sinn. In meiner Bubble gibt es kein rechtes Gedankengut und wenn sich doch ein alter "Facebookfreund" zu komischen Kommentaren hinreißen lässt, dann lösche ich ihn, ciao. Es gibt auch keine linksextremen in meiner Bubble, meine Bubble ist ein liberaler Raum. Hier darf jeder machen und sagen, was er, sie oder es will. Hier geht es viel um Technik, um Fußball, um Werbung, um Nachrichten und ab und zu nochmal um Persönliches. Hier in der Bubble reibt man sich verwundert die Augen, wie verrückte Trumpanhänger das Kapitol stürmen können oder macht sich in Memes darüber lustig, man ist verwundert, wie man für den Brexit stimmen kann, wie man RB Leipzig Fan wird, wie man so viel Regenwald abholzen kann oder wie ungebildet man sein muss, um den Klimawandel zu leugnen. Das ist meine digitale Realität. Und alle Medien dich in konsumiere, bestätigen mir mehr oder weniger dieses Weltbild. Dafür zahle ich auch gerne GEZ-Gebühren und finde in Trump, Johnson, Bolsonaro und ihren Anhängern die Schuldigen für all die globalen Probleme. Und weil ich in Zeiten der Pandemie vergleichsweise viel Zeit habe, mich am Smartphone oder am Laptop in der Bubble zu bewegen, verfestigt sich dieser Eindruck zunehmend.


Die weltweiten Probleme sind groß, aber die Außenhaut meiner Bubble ist stärker, fast so stark wie die europäischen Außengrenzen. Deshalb ziehe ich mich weiter in meine Bubble zurück, um Schutz und Halt zu suchen. Das was außerhalb der Bubble passiert, schaue ich mir wenn überhaupt nur noch in GIFS oder Memes an. Alles andere, zu tiefgreifende, würde mich auch zu sehr runterziehen.


So könnte ich meine digitale Realität jetzt beschließen und den Text beenden. Dann wäre der Bogen zu den einleitenden Themen aber nicht gespannt. Der Text verfolgt nämlich nicht die Absicht, mich und meine Bubble zu umschreiben, nein er soll aufdecken, welches große Thema bzw. Problem die Welt hat.


Und das sind die unkontrollierten Algorithmen der großen Datenkraken, die nur aus wirtschaftlichen Interessen handeln und dabei keine gesellschaftsrelevanten Differenzierungen vornehmen. User ist User. Und User soll interagieren, egal welche Emotionen dabei freigelegt werden und egal, was das mit dem Weltbild des Users macht. Und wenn der User lange genug von einer digitalen Realität belagert wird und genug Comments, Likes & Shares verteilt und geerntet hat, dann konvertiert er irgendwann. Aber nicht, in dem er den neuen Nike Sneaker in seiner Lieblingsfarbe kauft oder in die Kirche geht, sondern in dem er sein Weltbild verändert, in dem er sich einem Personenkult anschließt, in dem er gegen das Establishment ist, in dem er sich (Verschwörungs-)Theorien anschließt, die er jeden Tag vorgelegt bekommt und die er nur glauben kann, weil sie perfekt auf ihn zugeschnitten sind. Fast so wie die Kinderwagen-Werbung für die Neu-Schwangere. Nur fährt der/die UserIn am Ende nicht mit einem Kinderwagen durch die Gegend, sondern kauft sich im Zweifel lieber eine Waffe und geht auf die Straße.



Natürlich ist Trump mitschuldig und natürlich hilft Twitter ihm als Verbreitungskanal dabei. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. All das würde nicht funktionieren, wenn das Fundament dahinter nicht so stark und mächtig wäre, wenn nicht jeden Tag unzählige Texte, Bilder, GIFS, Memes, Postings, Videos oder Podcasts geteilt und kommentiert werden würden, die krude Theorien verbreiten, aufgreifen oder untermauern. Die Produktion dieses Contents ist das eine, aber die Verbreitung und die perfekte Befeuerung und Kuration der Algorithmen ist das andere und das Gefährliche.


Alle wissen, dass dem Brexit eine große Kampagne vorausgegangen ist, von Unternehmen, die schlau genug waren, die Algorithmen zu ihren Gehilfen zu machen und Grauzonen ausnutzen. Und all das wiederholt sich ständig und sorgt für immer mehr dieser Ereignisse, die die Gesellschaft weiter spalten. Wieso wird nichts dagegen unternommen? Wieso werden die Unternehmen nicht in die Pflicht genommen, ihr Geschäftsmodell so zu überarbeiten, dass dieses wieder mehr zu einem organischen Marktplatz wird, auf dem Werte und Normen "wieder" eine größere Rolle spielen und das nicht von Ängsten, Nöten und Emotionen gefüttert wird und ausschließlich (!) mit Daten-Treibstoff funktioniert? Darauf gibt es keine eindimensionale Antwort, das ist klar. Aber aktuell gibt es nicht mal einen öffentlichen/politischen und stetigen Diskurs darüber und das ist genauso beängstigend, wie die Funktion der Algorithmen selbst. Wenn ich nicht gelernt habe, dass ich mich oder andere mit einem Messer verletzen kann, dann werde ich weiter damit rumfuchteln und andere, die dasselbe tun, dafür auch nicht bezichtigen, sondern darin bestärken. Vielleicht weiß ich dann sogar nicht mal, dass es auch Leute gibt, die kein Messer bei sich tragen.


Mit anderen Worten: Wir brauchen Aufklärung und mehr Wahrnehmung auf diesen Themen! Außerdem ein härteres Vorgehen der Politik gegen die Geschäftsmodelle. Wir können die Verantwortung nicht bei den Usern suchen und durch Gesetze versuchen, Hürden aufzubauen, die in Gänze am Ende ohnehin nicht kontrolliert werden können. Die Bubbeln werden sich nämlich nie von sich aus auflösen, das würde dem Ende der Unternehmen gleichkommen, die damit viel Geld verdienen und die jeden Tag daran arbeiten, dem User noch mehr und "besseren" Content aufzutischen.


Seit es das Internet gibt, gibt es Online-Messenger und Foren, also Orte, an denen ich mich mit Gleichgesinnten austauschen kann. Daran wird sich auch nie etwas ändern. Genauso wie es jetzt Telegram gibt, was diesen Foren noch am nächsten kommt. Aber wenn der Zugang zu diesen "geheimen" Foren und Kanälen salonfähig gemacht wird, in dem auf weltweit anerkannten Kanälen dafür geworben werden kann und in dem ich die Theorien eben nicht nur in diesen Foren, sondern auch auf öffentlichen Seiten und Kanälen finde, die alle seriöse Absender wie zum Beispiel Facebook tragen, bekommt das eine andere Tragweite und bestätigt mich als naiven User darin, dass alles zu glauben und entsprechend zu handeln.


Foto: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/joe-biden-der-kuenftige-us-praesident,SEnSCRs

Joe Biden hat die Aufgabe, die USA zu vereinen. Wenn er es wirklich ernst meint und an eine Zusammenführung des Landes glaubt, sollte seine erste und vermutlich auch größte Aufgabe (Corona mal außenvorgelassen) darin liegen, die vielen durch Algorithmen geprägten Echokammern des Landes aufzuweichen oder zu zerschlagen, um überhaupt eine Chance zu haben, mit politischem Handeln einen gemeinsamen Kurs einschlagen können. Keine Rede und keine Maßnahme der Welt wird sonst gegen diese Spaltung ankommen, weil nichts und niemand so präsent ist, wie das eigene Smartphone. Wenn ihm das nicht gelingt, werden sich die Trump-Anhängern in den nächsten vier Jahren, geschützt durch ihre Echokammern, nur weiter radikalisieren und von Donald Trump angeheizt darauf warten, zurückzuschlagen. Und von diesen Phänomenen sind wir in Deutschland keineswegs geschützt, nur geht es uns aktuell noch zu gut, als dass sich die breite Bevölkerung durch Panikmache in den sozialen Netzwerken leiten lässt. Das kann aber, durch die Pandemie getrieben, in zwei, drei Jahren auch schon ganz anders aussehen.


Die Privatsphäre seiner MitbürgerInnen zu schützen, wie das in Deutschland und Europa vergleichsweise mit viel Nachdruck getan wird, ist ein wichtiger Bestandteil. Es bekämpft nur leider überhaupt nicht den Kern des Problems, wenn die UserInnen inzwischen so in den Fängen der Netzwerke stecken, dass ihnen jedes AGB Update völlig egal ist, so lange die eigenen Bedürfnisse befriedigt werden. Mehr OptIn, OptOut, Cookie-Zustimmungen usw. nerven nur und werden schnellstmöglich weggeklickt, um den Content-Treibstoff freizulegen.


So sieht keine Aufklärung und keine Verbesserung aus, so wird das Thema nur noch staubiger und verkümmert, weil es eben keine Likes & Shares der breiten Community bekommt.


Es geht um nicht weniger als das Gesellschaftliche Miteinander und es steht eine Menge auf dem Spiel, da müssen die Maßnahmen schon deutlich radikaler sein. Ein Autobauer darf aus gutem Grund keine heimliche Software in seine Autos bauen, die ihm einen wirtschaftlichen Vorteil verschaffen. Das kommt den Unternehmen, die es trotzdem getan haben, vergleichsweise teuer zu stehen. Obwohl sie damit der Gesellschaft auf den ersten Blick nicht wehgetan hat oder die Gesellschaft gespalten hat. Trotzdem ein hartes Vergehen, was ein politisches Erdbeben ausgelöst hat.


Wieso dürfen andere Branchenriesen, die sogar noch auf anderen Kontinenten angesiedelt sind und dazu noch wenig bis keine Steuern in Europa zahlen, alles im Verborgenen machen, ohne irgendetwas befürchten zu müssen? Wieso wird deren Geschäftsmodell blindlinks durchgewunken, obwohl es die mit Abstand größte Kraft in politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht ist und offenbar deutlich mehr Schaden anrichtet, als das es Gutes tut?


Das Konto von Donald Trump nach dem Sturm des Kapitols zu sperren, ist eine absolute Farce und reiner Aktionismus, um das eigene Geschäftsmodell zu schützen und um von den eigentlichen Problemen abzulenken. Denn diese zu bekämpfen hieße, auf viel Geld zu verzichten und das ist im Turbokapitlismus keine Option.


Ein letzter Gedanke: Ich bin ein großer Verfechter von Technik und Innovation. Ein großes "neues" Feld ist dabei das maschinelle Lernen, was in den letzten Jahren schnell/weiter an Fahrt aufgenommen hat und viel verändern wird bzw. ach schon vieles verändert hat. Bisher ist die Angst vor radikalen Änderungen aber ausgeblieben, weil wir bereits jetzt einen vergleichsweise breiten Diskurs über ethische Fragestellung im Zusammenhang mit dieser Technologie haben. Das ist ein wichtiger Aspekt, AI und Ethik in vielen Fällen in einem Atemzug zu nennen, weil auch hier große gesellschaftliche Einschnitte anstehen werden, die es frühzeitig zu diskutieren gilt und über die die Bevölkerung Bescheid wissen muss. Wieso wurden und werden die vielen ethischen und gesellschaftlichen Fragestellungen rund um das Thema "Social Media" nie ernsthaft auf den gestellt oder diskutiert? Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass wenige Unternehmen so mächtig sind und schalten und walten können, wie sie wollen, ohne ein politisches Gegengewicht, ohne wahrnehmbare politische Expertise in der Öffentlichkeit? Das der "Neuland" Begriff von Angela Merkel so lange so negativ nachhallen wird, hätte ich mir damals nicht ausmalen können und zeigt doch, dass dieser vermeintlich unkontrollierbare Raum namens "Social Media" bis heute nur für die eigene Wahlkampf-Kampagne genutzt wird, mit ordentlich Mediabudget und witzigen Selfies der Politiker.


 

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